– Von Cäsar (Reinhard Spöring) –
Cäsar, ein Freund unseres Ortsvereinsvorsitzenden Thomas Klein, ist seit seinem Eintritt in den Ruhestand in Bremen seit vielen Jahren ehrenamtlich für die Wohnungslosenhilfe und bei der Zeitschrift der Straße tätig. Der hier beschriebene Perspektivwechsel zeigt sehr eindrücklich, wie unterschiedliche Lebensformen die Wahrnehmung bestimmen.
Auch wenn hier aus Bremen berichtet wird, lassen sich die Situationen grundsätzlich auch auf Oldenburg übertragen. Das Projekt Housing First besitzt auch in Oldenburg eine hohe Priorität. Cäsar bietet in Bremen – ausgehend vom Hauptbahnhof – sehr interessante und empfehlenswerte Führungen durch die „Problemzonen“ der Stadt an und zeigt die Wirklichkeit der Wohnungslosen. Termine können unter seiner E-Mail-Adresse angefragt werden.
Da stehe ich jetzt in der Innenstadt an der Contrescarpe am Wall, die Aussicht ist schön. Der Wallgraben vor mir, und doch, ich erinnere mich an die Zeit, als ich Obdachlose in der Innenstadt sah, wie sie in den Ecken saßen oder in Hauseingängen lagen. Oft auch als verwahrloste Gestalten, die um 1 € betteln; so habe ich sie wahrgenommen.
Damals habe ich oft nur geahnt, dass diese Menschen häufig für traurige Schicksale stehen. Aber warum sie da leben – auf der Straße – oft nur mit dem Nötigsten in einem kaputten Rucksack verstauter Sachen, vielleicht mit einer Flasche Schnaps in der Hand oder nur kurz glücklich nach dem letzten Schuss Heroin, das wusste ich lange Zeit nicht.
Heute, nach jahrelanger ehrenamtlicher Arbeit im Bereich der Wohnungslosenhilfe und bei der Zeitschrift der Straße, nach Hunderten Gesprächen, habe ich von der Vielfältigkeit erfahren, die dazu führen kann, in die Obdachlosigkeit abzugleiten.
Mir begegnen Menschen, die traurig sind, fertig aussehen, häufig in dreckigen Klamotten am Leib, schaue in ihre Gesichter, die zeigen, dass ihnen das Leben übel mitgespielt hat. Ich sehe Armut, ihre Hilflosigkeit, aber auch der Wunsch nach Wertschätzung, Wunsch nach einem Leben ohne Not.
Ich frage mich, ob ich damals blind war, wollte es nicht wahrhaben, mich nicht auseinandersetzen. Lieber ging ich achtlos an ihnen vorbei, von der Arbeit nach Hause, übrigens ein schönes Zuhause. Diese Selbstverständlichkeit ein Dach über den Kopf zu haben!
Heute sehe und erkenne ich im Stadtteil, in der Innenstadt – ja eigentlich überall – Menschen, die verschämt und verstohlen in Mülleimern nach Pfandflaschen oder Essbarem suchen. Ich sehe dort den Mann, der mit einer speckigen Sporttasche auf der Bank ausruht. Und ich weiß, dass er draußen schläft.
Ja, hinter der Oberfläche der ordentlichen konsumorientierten Welt in Bremen gibt es eine verborgene Welt, die Welt der Armen, Ausgegrenzten und Hoffnungslosen. Wir schätzen, dass heute ungefähr 500 bis 600 obdachlose Menschen gibt, die in dieser schönen Stadt Bremen unter uns leben.
Oft unterhalte und frage ich unsere Verkäuferinnen und Verkäufer warum sie die Zeitung verkaufen wollen und lade sie zu einem Kaffee ein. Am Anfang hatte ich große Sorgen, dass meine Fragen falsch verstanden werden, vielleicht aus Voyeurismus an ihren Lebenssituationen.
Ich war allerdings überrascht, wie offen mir geantwortet wurde. Ich erfuhr viel über die mir bis dahin unbekannte Welt. Ich hörte die unterschiedlichsten Wege, die zu einem Leben auf der Straße führen.
Von Gefängnissen, Prostitution, das Zugedröhntsein mit Drogen, wie es sich anfühlt, Platte zu machen, also eine Schlafstätte draußen zu haben, Gewalt auf der Straße, Hunger, über Schicksale, die häufig schon in der Kindheit oder Jugend anfingen und ich lernte Menschen kennen, die aus einem scheinbar geregelten Leben auf die Straße fallen.
Geschichten über Wohnungstüren, die einfach hinter einem zugemacht worden sind. Ins Taumeln gekommen, weil geliebte Menschen gegangen sind oder Kinder starben, weil man die Arbeit verloren hat, nur es anderen Menschen nicht sagen konnte, bis dann Mahnungen den Briefkasten zum Überquellen brachten und man letztendlich die Wohnung verloren hat, weil man nicht in der Lage war, sich Hilfe zu holen.
Ich erfahre das Leid, das man offensichtlich nur mit Alkohol oder anderen Drogen betäuben kann, dass Gefühl von Wertlosigkeit, der Hilflosigkeit, der Einsamkeit, ach, mir wurde klar, es gibt nie den einen Weg in die Obdachlosigkeit… Brüche im Leben …das beschreibt es wohl am genauesten.
Und ich stehe hier an der Contrescarpe, bin nachdenklich und erinnere mich an Bertold Brecht:
„Denn die im Dunkeln sieht man nicht.“